// WARUM ENTSTEHEN ÜBERALL KISTEN UND KEINE HÄUSER?



Julia Erdmann Gründerin von JES SOCIALTECTURE aus Hamburg
// JES SOCIALTECTURE, HAMBURG
Ein Kommentar von Julia Erdmann, Gründerin von JES aus Hamburg, über die Rolle von Dächern bei der Gestaltung.

Legt man einer Gruppe von Personen Bilder ausgewählter Straßen und Plätze vor, zeigt sich, dass grundsätzlich jeder Mensch in der Lage ist, ein Urteil über die Qualität von Stadträumen zu fällen. Eine besondere Expertise in Architektur oder Stadtplanung ist nicht notwendig, um zu erkennen, ob ein Ort freundlich, lebendig und einladend wirkt – oder aber kalt, abweisend und langweilig. Anstelle aufwändiger Studien und Szenarien reichen in der Regel Bauchgefühl, Emotion und gesunder Menschenverstand aus, um zu beurteilen, ob Räume, Gebäude, Quartiere und ganze Innenstädte funktionieren oder eben nicht.

Wenn sie nicht funktionieren, dann liegt es meistens daran, dass die sozialen und menschlichen Belange des Alltags kaum beachtet und die Planung nach rein technischen, wirtschaftlichen oder aber formal gestalterischen Gesichtspunkten durchgeführt wurde. Hinzu kommt, dass Architekt*innen und Planer*innen oftmals erst hinzugezogen werden, wenn die grundlegenden Entscheidungen über einen Ort bereits getroffen sind. Das Ergebnis kennen wir alle: gesichtslose Stadtquartiere mit quadratisch-praktischen Kisten statt Häusern mit „Köpfen“, seelenlose Investorenarchitektur, die an betongewordene Excel-Listen erinnert.

Wollen wir das? Finden wir das schön? Oder ist es nicht weitaus sinnvoller und die ureigenste Aufgabe der Architektur, Lebensräume zu schaffen, die den Menschen und ihren Lebensentwürfen entsprechen? Orte als lebendige Organismen und eigene Ökosysteme, die den gesellschaftlichen Transformationsprozessen gewachsen sind? Deshalb brauchen wir noch vor der ersten Leistungsphase eine Strategie, wie der Ort gebaut und gelebt werden kann.

Steildächer spielen bei der Planung von Orten eine wichtige Rolle, und man verschwendet wertvolles Potenzial, wenn man bei der Entwicklung neuer Stadtquartiere nicht über das Dach nachdenkt. Es ist vielleicht etwas komplizierter in der Planung, aber es lohnt sich. Denn Häuser mit einem ausgeprägten Dach haben Charakter, sprechen den Betrachter persönlich an und verleihen einem Ort nicht nur Identität, sondern machen ihn auch reicher.

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie schnell sich Veränderungsprozesse vollziehen und wie wichtig dabei Orte und Gebäude sind, die nicht nur für eine bestimmte Aufgabe und Funktion entwickelt wurden, sondern für Menschen, die dort wohnen, arbeiten und sich in jeder Lebenslage wohlfühlen wollen. In richtigen Häusern und nicht in Kisten.

Gastkommentare in stadt/land/dach geben stets die Meinung der jeweiligen Gastautoren wieder und nicht explizit die der Herausgeber.
Eine neue Skyline für Bremen: Es ist vor allem die lebhafte Dachlandschaft, die dem Europahafenkopf seinen Charakter verleiht und an den historischen Stadtkern anknüpft. Nach dem Entwurf von COBE sollen hier in naher Zukunft Büros, Wohnungen, Gastronomie- sowie Gewerbeflächen entstehen.
Bildnachweise: Anja Behrens (1); COBE – www.cobe.dk (2)

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