// IST DER WERT DES HANDWERKS IN VERGESSENHEIT GERATEN?



// SCHÖNBERGER ARCHITEKTUR, OBERVIECHTACH
Seit seinem Studium beschäftigt sich Julius Schönberger, Schönberger Architektur, mit einfachen Bauweisen basierend auf regionalen Bautechniken und Materialien. Wie sich dies auf die Transformation der Baubranche und das Selbstverständnis der hier tätigen Berufsgruppen auswirken kann, beschreibt er in seinem Kommentar.
// STATUS QUO

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird die Lücke zwischen lokaler Anforderung und tatsächlicher Leistungsfähigkeit der Konstruktion mit hochverarbeiteten Materialien geschlossen – das gilt auch für das Bauteil Dach. Zudem treffen der architektonische Ausdruckswille, optimierte Flächen für Photovoltaik oder baurechtliche Vorgaben heute vorrangig die Entscheidung über Dachform, Dachneigung, Konstruktion und Eindeckung, nicht die Region, das Klima, das Material oder die Bautradition.

// FORM FOLLOWS MATERIAL
Wie eng verwoben regionale Materialien, lokales Handwerk und das Regionalklima ursprünglich einmal waren, wird am vereinfachten Kontrast Strohdach - Steindach klar. Betrachtet man beispielsweise Ostbayern, gab es dort in langen Perioden des 18. und 19. Jahrhunderts Regionen, in denen klimatisch bedingt kein langhalmiges Stroh angebaut werden konnte. In diesen Gegenden griff man stattdessen, je nach Verfügbarkeit, auf spaltbares Gestein (Kalkstein, Schiefer) oder Legschindel aus Holz zurück. Unterschiede wie diese brachten in den Regionen komplett unterschiedliche Bautypologien zum Vorschein: Es entwickelten sich leichte, steile Strohdächer – oft als Walmdach mit Sparren und Zerrbalken konstruiert –, die keinen Kniestock und Dach- überstand zuließen. Zeitgleich entstanden wenige 100 km entfernt sehr flache, schwere Satteldachkonstruktionen mit Pfettendachstühlen, Kniestock und Dachüberstand. Regionalfaktoren wie diese prägen bis heute das Erscheinungsbild unserer historischen Bausubstanz.
// FORTSCHRITT DURCH RÜCKSCHRITT
Die Erschließung fossiler Energiequellen relativierte dieses System vernakulärer [vernakulär – aus dem Ort gewachsen, nicht gezielt von Expert*innen entwickelt] Bautechniken vollständig. Einfacher Transport, günstige Energie, neue synthetische sowie mineralische Baustoffe brachten nie dagewesene Möglichkeiten und Freiheiten. Im Rausch dieser Neuerungen konnte vermeintlich alles schnell, gut und überall gleich gebaut werden. Mittlerweile sind die Auswirkungen dieser Entwicklung wie der Ressourcenverbrauch und Recyclingprobleme bekannt. Die notwendige Transformation dieses fossilen Systems erweist sich als schwierig, da die Abhängigkeiten mittlerweile institutionalisiert, reglementiert und in sämtliche Strukturen eingewachsen ist.
„In unserer Situation, in der Klimaanpassung, kurze Transportweg und der Einsatz von nachhaltigen, ökologischen Materialien im Zentrum stehen sollten, lohnt sich der Blick zurück auf vernakuläre Bautechniken.“
Julius Schönberger
// DAS NATURDORF BÄRNAU
Ein erster Schritt in diese Richtung ist das experimentelle Projekt der vier Forschungshäuser im „Naturdorf Bärnau“. Im Norden der Oberpfalz am Geschichtspark Bärnau-Tachov entstehen vier Ferienhäuser, die ohne Zement und industrielle Verbundstoffe auskommen und lediglich mit Materialien aus einem Umkreis von 100 km errichtet werden. Die Materialien beschränken sich im Kern auf drei organische – Holz, Hanf und Kohle – und 3 mineralische – Naturstein, Lehm und Kalk – Baustoffe, also einfache Rohmaterialien, die in Zeiten von Hochleistungswerkstoffen eigentlich außer Konkurrenz scheinen. Jedoch treten sie heute unter veränderten Rahmenbedingungen wieder als sinnvoll und rentabel auf. In einer globalen Folgekostenrechnung, die neben Euro auch die Währung CO2 und den sozialen Fußabdruck kennt, kann beispielsweise ein weit gereister Naturstein aus Indien nicht günstiger sein als der Stein von nebenan.
// INTERDISZIPLINÄR DENKEN
Doch nicht nur die Materialströme müssen sich zwangsläufig ändern, auch die Arbeitsmethoden ganzer Berufsgruppen. Hier entwerfen die Architekt*innen nicht mehr allein. Stattdessen sitzen Materialverfügbarkeit, handwerkliche Machbarkeit und der regionale Kontext von Anfang an mit am Tisch. Denn die strikte Trennung von Planung und Ausführung funktioniert hier nicht mehr. Die vier Gebäude werden handwerklich von Wandergesell*innen aus ganz Europa errichtet, die ihr Wissen in den Planungs- und Ausführungsprozess einbringen, dieses aber auch auf der Walz weitertragen. So gelingt auch der Zugriff auf teilweise verlorengegangenes Handwerkswissen, welches durch die Industrialisierung des Handwerks heute kaum noch Anwendung findet. Vermeintlich müsste diese handwerkszentrierte Herangehensweise im Kontrast zum Fachkräftemangel stehen. Das Projekt zeigt jedoch eine hohe Nachfrage nach der Arbeit im Ursprungshandwerk, abseits der Abbund-Halle. Und genau darin steckt auch die Chance unserer Zeit, das Handwerk durch den Einsatz von KI und Robotik von routinierter Fließbandarbeit zu entlasten und so wieder die Attraktivität des Kernhandwerks zu steigern. Vernakuläres Bauen ist insofern kein herkömmliches Experiment, da hierbei nichts Neues für die Zukunft „erfunden“ wird, sondern über Jahrhunderte erprobte Techniken, die wiederaufgegriffen und transformiert werden. Es ist alles da – wir müssen es nur wiederentdecken!
Bildnachweise: Schönberger Architektur (1,3-7); Geschichtspark Bärnau-Tachov (2,8)

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