// WAS WIR VON DER NATUR LERNEN KÖNNEN



// PROF. ACHIM MENGES (l.), PROF. JAN KNIPPERS (r.), UNIVERSITÄT STUTTGART

Was hat Architektur mit einem Seeigel gemeinsam? Zugegeben, wirklich nah liegen die beiden nicht beieinander. Die Antwort ist dafür umso überraschender: Das Tragwerk des „bionischen Holzpavillons“, der 2019 für die Bundesgartenschau in Heilbronn errichtet wurde, basiert auf den biologischen Prinzipien eines Seeigels.

Die Übertragung biologischer Phänomene auf die Technik – in diesem Fall auf die Architektur – wird „Bionik“ genannt. Seit fast einem Jahrzehnt erforschen das Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baukonstruktion (ICD) und das Institut für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen (ITKE) der Universität Stuttgart das Plattenskelett des Seeigels. Ziel ist es, die Lasten allein durch Aufbau und Struktur abzutragen und so ressourcenschonendere Bauweisen zu entwickeln.

// WENIGER MATERIAL, MEHR TRAGKRAFT

Bereits 2014 entwickelte das Projektteam den „Forstpavillon“ für die Landesgartenschau in Schwäbisch Gmünd. Wände oder Stützen gibt es nicht – ein Kuppeldach formt das gesamte Gebäude. Mit dem Folgeentwurf sollte sich der Pavillon weiterentwickeln. Untersucht wurde deshalb, ob mit der gleichen Holzmenge pro Quadratmeter eine größere, stützenfreie Konstruktion realisierbar ist – mit Erfolg: Die Spannweite des formaktiven Dachtragwerks liegt mit 30 Metern ein Dreifaches über der des Vorgängers und ist mit 38 Kilogramm pro Quadratmeter gerade einmal ein Kilogramm schwerer.

Die organische Form bedient sich der Prinzipien der Natur und wird so zu einem Teil von ihr.
// HOCHPRÄZISES 3-D-PUZZLE

In einem interdisziplinären Team und mithilfe computerbasierter Rückkopplung wurden 376 unterschiedliche polygonale Plattensegmente mit 17.000 verschiedenen Keilzinkenverbindungen generiert. Um Material und Gewicht zu reduzieren, versah man die einzelnen Segmente mit einem Hohlraum, der das Erscheinungsbild der Unterseite maßgeblich prägt.

Zwei Schwerlastroboter ermöglichten alle Vorfertigungsschritte in einer einzigen vollautomatisierten Fertigungseinheit. Durchschnittlich dauert das Fügen der Segmente je acht, das Fräsen weitere 30 Minuten. Um die vorgefertigten Holzkassetten vor Ort wie ein riesiges 3-D-Puzzle zusammenzustecken, benötigten zwei Handwerker gerade einmal zehn Tage. Anschließend wurden sie wasserdicht sowie mit unbehandelten Lärchenplatten als Außenhaut eingedeckt.

Gemäß dem Motto der Beteiligten entstehen größere Spannweiten mit „weniger Material durch mehr Form“.
// RÜCKBAUBAR VON ORT ZU ORT

Mit seiner organischen Form fügte sich der „Nur-Dach-Pavillon“ ganz selbstverständlich in die wellenförmige Landschaft auf der Sommerinsel des BUGA-Geländes ein. Durch drei geschwungene Öffnungen wurden die Besucher*innen von den Hauptwegen hineingeleitet, um dort an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen oder bei Konzerten die besondere Atmosphäre zu genießen. Denn neben der guten Akustik, die durch die Holzkassetten entsteht, sind LED-Leuchten in den Hohlräumen verbaut, die mit indirekter Beleuchtung bei Dämmerung eine außergewöhnliche Stimmung erzeugen.

Auch wenn die Bundesgartenschau in Heilbronn schon ein paar Jahre her ist, der bionische Pavillon existiert weiter. Denn alle Bauteilelemente sind vollständig rückbaubar und können an einem anderen Standort wiedererrichtet werden – wie zum Beispiel im letzten Jahr auf der BUGA 2023 in Mannheim.

Bildnachweise: Christoph Pueschner/Zeitenspiegel (1); Nikolai Benner (2); ICD/ITKE Universität Stuttgart (3-5)

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