Seit der römische Architekt und Architekturtheoretiker Vitruv in seinem einflussreichen Werk De architectura libri decem im 1. Jahrhundert v.Chr. die „Urhütte“ – das Tugurium – beschreibt, ist diese Typologie eines schlichten Hauses mit geneigtem Dach Gegenstand architekturtheoretischer Reflexion.
Vitruv idealisiert die einfache Hütte als grundsätzliches Bauprinzip und elementares architektonisches Konzept. Seit mehr als 2000 Jahren interpretieren und variieren Architekten weltweit diesen Typus des Satteldachhauses. Er kommt in allen Epochen und Bauaufgaben zur Anwendung. Sakralbauten vom antiken Tempel über die mittelalterlichen Kathedralen bis zu zeitgenössischen Kirchen und Kapellen entsprechen diesem Archetypus ebenso wie Wohnhäuser, Museen, Bildungseinrichtungen, Industrie- oder Verkehrsbauten. Die Typologie des Satteldachs prägt ganze Dachlandschaften, wird zum charakteristischen, identitätsstiftenden Merkmal ganzer Städte und Regionen, wie Monschau, Rothenburg oder Jerez de la Frontera in Andalusien.
Klimabedingungen, regional verfügbare Rohstoffe, kulturelle Traditionen und der urbane Kontext haben maßgeblichen Einfluss auf Dachform, Dachneigung, Dachüberstand und Materialität. Es ist bemerkenswert, wie stabil sich der Typus erweist, angesichts der zahlreichen Varianten von den steinernen Holy Well Sites in Irland bis zum gläsernen Gewächshaus in den Niederlanden.
Das Haus mit geneigtem Dach ist zweifellos ein wesentlicher Teil der Baukultur in Deutschland und Europa. Mit Einzug der Moderne wird es in seiner tradierten Selbstverständlichkeit hinterfragt, verformt, aufgebrochen und teilweise abgeschafft. Während das 1919 gegründete Bauhaus in die imposanten, lichtdurchfluteten Dachateliers der 1911 von Henry van de Velde erbauten Kunstgewerbeschule in Weimar einzieht, hat der 1926 von Walter Gropius errichtete Neubau in Dessau eine orthogonale Kubatur ohne jegliche geneigte Flächen. Der in der Folge entwickelte Internationale Stil verwirft weitgehend regionale Traditionen, sucht nach neuer Allgemeingültigkeit und internationaler Übertragbarkeit. Mit den Bauten und Schriften u.a. von Gropius, Taut, Mies van der Rohe, Le Corbusier und Adolf Loos entsteht eine neue Architekturauffassung. So verschwindet das geneigte Dach weitgehend aus dem Repertoire und Formenkanon des Neuen Bauens.
Gleichzeitig entwickelt sich eine Gegenbewegung, die auf regionale Traditionen und Typologien setzt. In der von Walter Gropius 1926 publizierten Umfrage „Das flache Dach“ prophezeien bekannte Architekten wie Erich Mendelssohn eine Zukunft unter flachen Dächern. Ein Jahr später veröffentlicht Paul Schultze-Naumburg die polarisierende Schrift: „Flaches oder geneigtes Dach?“ und lässt Befürworter des Steildachs wie Hermann Muthesius die Vorteile von Giebeln und Satteldächern preisen. In kaum einem anderen Land wird die Debatte so leidenschaftlich geführt wie in Deutschland. Sie gipfelt im „Zehlendorfer Dächerstreit“. Er entbrennt im Berliner Bezirk Zehlendorf, wo sich Bruno Tauts Onkel-Tom-Siedlung mit flachem Dach und die von Heinrich Tessenow koordinierte Satteldachsiedlung Am Fischtalgrund vis-à-vis wie zwei gebaute Manifeste gegenüberstehen. Beide Siedlungen repräsentieren komplett konträre ästhetische und wohl auch politische Richtungen.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wächst der politische Einfluss auf die architektonischen Entwicklungen in Deutschland. 1933 wird das Bauhaus geschlossen. Die 1927 vom Deutschen Werkbund unter der Leitung von Mies van der Rohe errichtete Weißenhofsiedlung in Stuttgart mit ihren weißen Häusern und ihren Flachdächern wird als „Arabersiedlung“ diffamiert. Das Satteldachhaus wird als Propagandainstrument einer Blut-und-Boden-Ideologie vereinnahmt. In der Folge haftet diesem Archetypus von Haus auch Jahre nach den Nationalsozialisten etwas Konservatives an.
Ganz anders im Ausland. Dort scheint es eine weit weniger ideologisch belastete Bewertung des Steildachs zu geben. Für Arne Jacobsen etwa steht diese Dachform keineswegs im Widerspruch zur Weiterentwicklung einer zukunftsweisenden Architektur. Seine Alleehäuser in Gentofte, das Haus Simonys in Holte oder die Munkegaardschule aus den 1950er Jahren sind eindrucksvolle Beispiele für die Vereinbarkeit einer modernen Architektur mit dem geneigten Dach. Die von der Fassade ins Dach gezogenen Fenster seiner Zentralschule in Hårby erinnern an die Dachateliers in Henry van de Veldes Kunstgewerbeschule.
Die Typologie des Steildachs wird zum architektonischen Experimentierfeld. Ein Höhepunkt dieser Entwicklungen sind die auf die Spitze gestellten Würfelhäuser des Architekten Piet Blom 1975 in Helmond und 1984 in Rotterdam.
Auch unter den Architekten der deutschen Nachkriegsmoderne findet eine neue Aneignung des Steildaches statt. Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung in Berlin entwirft Paul Baumgarten 1957 mit dem Eternithaus im Tiergarten einen neuen Wohnhaustypus mit geneigten Dächern.
Große Sheddächer prägen auch die Industriearchitekturen Ernst Neuferts in Heidelberg. Besondere Aufmerksamkeit aber erfährt das Steildach mit dem Bau der Philharmonie von Hans Scharoun in Berlin 1963.
Das Ensemble wirkt wie ein Befreiungsschlag. Mit seiner städtebaulichen Setzung, seiner innenräumlichen Inszenierung und seiner skulpturalen Dachlandschaft eröffnet das Haus einer ganzen Architektengeneration neue Perspektiven. Aufbruchstimmung im wahrsten Sinne des Wortes erzeugt auch Gottfried Böhm mit seiner Wallfahrtskirche in Neviges von 1968.
Die großartige Betonskulptur des Pritzkerpreisträgers ist eine komplette Neuinterpretation der Idee vom Dach und vor allem ein einzigartiges Raumerlebnis. Eine ähnlich radikale Neuinterpretation des Steildachs findet sich in den Zeltdächern von Günter Behnisch und Frei Otto für die Stadionbauten der Olympischen Spiele in München 1972. Es verwundert kaum, dass eine solche Seildachkonstruktion von Frei Otto die neue, demokratische Bundesrepublik Deutschland auf der Expo 1967 in Montreal repräsentiert. Aber auch in seiner ursprünglichen, archetypischen Form wird das Steildach rehabilitiert. Oswalt Mathias Ungers adelt diese Typologie, indem er das Auditorium im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt 1984 als Haus im Haus gestaltet.
Eine ähnliche Strahlkraft in der internationalen Architekturszene entwickelt 1976 die abstrakte Installation der „ghost structure“ eines Satteldachhauses am Franklin Court in Philadelphia von Robert Venturi.
Und das bereits 1964 errichtete Vanna Venturi House in Pennsylvania
wird zu einem der ersten Manifeste einer postmodernen Bewegung, die geprägt ist von einer Rückbesinnung auf traditionelle Formen und einer Lust am stilistischen Zitat. Auch in Zeiten des Dekonstruktivismus lenken die Architekten den Blick auf das Dach, allen voran Coop Himmelb(l)lau mit ihrem gläsernen Dachausbau in der Wiener Falkestraße 1988.
Die Avantgarde, so scheint es, entwickelt eine Neugier für das Steildach. Wichtige Impulse kommen aus der Schweiz. Die fensterlose Kapelle von Christian Kerez in Oberrealta von 1993
und das Haus Rudin von Herzog de Meuron aus dem Jahr 1996
werden zu Ikonen des Satteldachhauses. Kurz darauf folgen in den Niederlanden die Architekten MVRDV mit einer ganzen Siedlung aus Satteldachhäusern in Hageneinland/DenHaag –
jedes Haus in einem anderen Material, aber immer die gesamte Gebäudehülle aus demselben. Vielbeachtet auch „Didden Village“ in Rotterdam, das Haus auf dem Haus mit einem komplett blauen Kunststoffüberzug von MVRDV aus dem Jahr 2002.
Der Blick auf die vergangenen zwanzig Jahre zeigt, es scheint eine wachsende Neugier unter Architekten zu geben, das Potenzial des archetypischen Steildachhauses wieder zu entdecken und neu zu interpretieren. Die aktuellen Entwicklungen sind geprägt von einem experimentellen Umgang mit Form und Proportion, Faltung und Öffnung, Materialität und Licht im Raum. Das Spektrum reicht vom freistehenden Einfamilienhaus mit einer homogenen weißen Gebäudehülle ohne Details in Leiria von Aires Mateus
bis zum innerstädtischen monolithischen Mehrfamilienhaus am Prenzlauer Berg von Barkow Leibinger . Es führt von Souto de Mouras poetischem Museu Paula Regu in Portugal zu Bjarke Ingels Wohnhochhaus Via 57 West in New York.
Und es fordert zu immer neuen Materialexperimenten heraus, wie bei der Dacheindeckung eines Ferienhauses von Tegnestuen Vandkunsten mit Seetang in Schafwollnetzen.
Ein besonderes, bereits vieldiskutiertes, Highlight ist zu erwarten, wenn das Satteldachhaus nun zurückkehrt auf die innerstädtische Bühne am Kulturforum in Berlin. Zwischen zwei Ikonen der modernen Architektur, der ebenso schlichten wie ausdrucksstarken Nationalgalerie von Mies von der Rohe und der skulpturalen Philharmonie von Hans Scharoun, platzieren die Schweizer Architekten Herzog de Meuron das Museum des 20. Jahrhunderts.
Sie beschreiben und begründen ihren Entwurf eines scheunenartigen Gebäudes als „self-contained and self-evident shape“. Obwohl noch nicht gebaut, ist dieses Haus schon als Entwurf ein Manifest und ein bemerkenswerter zeitgenössischer Beitrag in der langen Kulturgeschichte des Steildachs, der die weitere typologische Entwicklung anregen und die architekturtheoretische Reflexion bereichern wird.
Wie die drei Häuser am Kulturforum und das vielfältige Spektrum zeitgenössischer Typologien zeigen, ist die Wahl der Dachform heute keine formal-ideologische Frage, sondern eine gesamtkonzeptionelle architektonische Entscheidung im Kontext von Ort und Aufgabe, Raumerlebnis und Funktion, Konstruktion und Materialität und nicht zuletzt Geschichte und Kultur.