Von Prof. Jan R. Krause
Hochschule Bochum, Architektur Media Management AMM
Über Raum-Reserven unterm Dach ist viel geschrieben: Der Dachgeschossausbau von Wohngebäuden eröffnet attraktive Perspektiven der Wohnraumerweiterung. Wieviel Potenzial aber gibt es auf dem Dach des Gebäudebestands in Deutschland für Aufstockungen? Die aktuelle „Deutschlandstudie 2019“ von TU Darmstadt und Pestel-Institut liefert nun konkrete Zahlen zu Raum-Reserven auf dem Dach von Wohn- und Nicht-Wohngebäuden. Insgesamt 2 Millionen Wohnungen könnten durch Aufstockungen entstehen, davon allein rund 600.000 auf Bürohäusern, Supermärkten und Parkhäusern, ohne weiteres Bauland zu verbrauchen.
Bundesweit fehlen über eine Million Wohnungen. Allein in Berlin liegt das Defizit bei 92.000 Wohnungen. Um den Bedarf zu decken, müssten jährlich bundesweit rund 400.000 Wohnungen (davon gut 18.400 in Berlin) neu gebaut werden. Schätzungen zufolge sind im vergangenen Jahr jedoch weniger als 300.000 neue Wohnungen entstanden. Der Mangel an Wohnraum – insbesondere an bezahlbarem Wohnraum – ist unter anderem auf gestiegene Baupreise, Fachkräftemangel und vor allem wachsende Bodenspekulation zurückzuführen. Wo Fläche knapp und teuer ist, macht das Bauen auf dem eigenen Gebäude wirtschaftlich besonders viel Sinn. Deshalb plädieren die Wissenschaftler der neuen Studie für eine Offensive bei der Dachaufstockung von Wohngebäuden, deren großes Potenzial sie mit 1,1 bis 1,5 Millionen Wohneinheiten nachweisen.
Besonderes Augenmerk aber lenkt die Studie „Wohnraum-Potenziale in urbanen Lagen“ auf die Aufstockung und Umnutzung von Nicht-Wohngebäuden: „Büro- und Geschäftshäuser, eingeschossige Discounter mit ihren Parkplätzen bieten ein enormes Potenzial für zusätzliche Wohnungen – durch Nachverdichtung wie Aufstocken, Umnutzung und Bebauung von Fehlflächen. Zusätzlich lässt sich eine Auswahl an öffentlichen Verwaltungsgebäuden für neuen bezahlbaren Wohnraum nutzen.“, sagt Prof. Karsten Tichelmann von der TU Darmstadt. „Ressourcen für durchaus attraktiven Wohnraum bieten zudem innerstädtische Parkhäuser“, so Tichelmann. Der Studie zufolge ließen sich bundesweit 560.000 Wohneinheiten allein durch die Dachaufstockung von Bürokomplexen und Verwaltungsgebäuden erreichen. Und wo früher einmal Büros und Behörden untergebracht waren, bietet die Umnutzung leerstehender Gebäude heute ein Potenzial von weiteren 350.000 Wohnungen. Rund 400.000 zusätzliche Wohnungen könnten auf den innerstädtischen Flächen der zwanzig größten Lebensmittelmarkt- und Discounterketten entstehen – ohne dabei Abstriche bei den Verkaufsflächen oder Parkmöglichkeiten zu machen. Selbst City-Parkhäuser bieten Platz für Wohnungen und Kindertagesstätten: Wird das oberste Parkdeck aufgestockt, geht die Studie von mindestens 20.000 zusätzlichen Wohneinheiten bundesweit aus. „Die statischen Reserven der meisten Parkhauskonstruktionen und die großen Gebäudetiefen bieten sich insbesondere an für Wohnfolgeeinrichtungen wie zum Beispiel Kitas.“, stellt Tichelmann. Insgesamt haben die Verfasser der Studie in und auf Nichtwohngebäuden ein Potenzial von zusätzlichen 1,2 Millionen Wohnungen ermittelt – ohne dafür nur einen Quadratmeter Bauland mehr zu benötigen. Betrachtet wurden dabei nur Regionen mit hohem Wohnraumbedarf bzw. Leerstand unter 3 Prozent. Außerdem wurden nur Objekte berücksichtigt, die in Allgemeinen Wohngebieten, Mischgebieten, Kerngebieten oder Urbanen Gebieten liegen, wo die Baunutzungsverordnung Wohnen erlaubt. Das legt den Schluss nahe, dass das Potenzial bundesweit noch deutlich höher ist.
Die Studie zeigt, dass die größten Möglichkeiten, Wohnraum ohne Bauland zu schaffen, in der Aufstockung liegt – im Wohn- wie im Nichtwohnbau. Um die brachliegenden Potenziale für den Wohnungsbau zu nutzen, müssen sich jedoch politische Rahmenbedingungen verändern, fordern 16 Verbände und Organisationen der Bau- und Immobilienbranche, die die Deutschland-Studie 2019 bei der TU Darmstadt und dem Pestel-Institut in Auftrag gegeben haben, darunter auch die Bundesarchitektenkammer. Notwendig seien Weiterentwicklungen im Bau- und Planungsrecht. So müsse beispielsweise eine Überschreitung der Geschossflächenzahl, die häufig auf vor Jahrzehnten erlassene Vorschriften zurückgeht, bei Dachaufstockungen zulässig sein. Auch bei Trauf- und Firsthöhen sei Flexibilität notwendig. „Wir brauchen weniger bürokratische Hürden und mehr Bereitschaft zu guten, konzeptionellen Lösungen.“, sagt Holger Ortleb. Der Koordinator des Verbändebündnisses spricht sich zudem dafür aus, Stellplatzforderungen flexibel und für den Einzelfall zu gestalten. Aber auch finanzielle Anreize seien notwendig: So macht sich das Verbändebündnis dafür stark, die Abschreibung von derzeit zwei Prozent bei Dachaufstockungen und der Umnutzung von Nicht-Wohngebäuden auf einen AfA-Satz von vier bis fünf Prozent anzuheben. Nur so gelinge es, private Investoren verstärkt für Aufstockungen und Umwandlungen zu gewinnen. Für kommunale und genossenschaftliche Wohnungsbaugesellschaften sollte es eine Investitionszulage von 15 Prozent geben. Zudem spricht sich das Verbändebündnis für eine verbesserte Förderung des Mietwohnungsbaus und für gezielte KfW-Förderprogramme aus.
Wie zahlreiche Beispiele von Aufstockungen aus jüngster Zeit zeigen, eröffnen sich mit dem Steildach attraktive Perspektiven für das Wohnen auf dem Dach. Leichte Konstruktionen, modulare Bauweisen, unterschiedlichste Materialoptionen und Dachtypologien vom Pultdach über das Satteldach bis zum Mansarddach in Verbindung mit innovativen Dachfenstermodellen, Loggien oder Terrassen bieten gestalterische Vielfalt für lebenswerte urbane Dachlandschaften.
Bauen ohne Bauland und Wohnraum schaffen durch Aufstockung von Nichtwohnbauten: die aktuelle Deutschlandstudie weist ein enormes Potenzial an Flächenreserven aus. Gut Beispiele gibt es bereits, wie diese Aufstockung eines Bank- und Bürogebäudes zeigt. Architekt Manfred Stommel-Prinz, Bergisch Gladbach. Fotograf: Cornelia Suhan. Copyright: Rheinzink.