// BAUEN OHNE GRUNDSTÜCK: AUF ALT MACH NEU

Wohnungsknappheit, Klimawandel und zu hoher Flächenverbrauch: die Baubranche steht vor herausfordernden Aufgaben. Planende, Ausführende und Industrie müssen gemeinsam einen Weg finden, Wohnraum zu schaffen und graue Energie zu bewahren – möglichst, ohne dabei weitere Bodenflächen zu versiegeln. Denn ohne Versickerungsflächen sind heutige Städte für Extremwetterereignisse, die sich aufgrund von Klimawandel und dem damit verbundenen Temperaturanstieg häufen, nicht gewappnet. Infolgedessen kommt Aufstockungen als einer Form der innerstädtischen Nachverdichtung eine bedeutende Rolle zu.
Drei einzelne Gebäude werden durch die goldene Aufstockung unter einem Dach vereint.
Als Bauaufgabe im städtebaulichen Kontext bergen Aufstockungen die besondere Herausforderung, mit den bereits bestehenden Strukturen und statischen Limitierungen umzugehen. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die immateriellen, ästhetisch-baukulturellen Werte: Nur wenn diese „goldene Energie“ eines Gebäudes erhalten bleibt, man also die bestehenden Proportionen und stilistischen Ausprägungen des Bestands und damit den Respekt vor der Arbeit des eigenen Berufsstands wahrt, kann am Ende eine nachhaltig erfolgreiche Synthese aus Alt und Neu entstehen.
// GOLDEN GEKRÖNT
Dass Dächer nicht nur eine abschließende, sondern auch eine verbindende Qualität haben können, zeigt sich in Wien. Mitten in der Altstadt gelegen, beherbergte der „Korb Etagen“ genannte Komplex einst die „Erste Bank“ und bis heute das namensgebende Café Korb. Ursprünglich handelte es sich um drei Gebäude aus der Jahrhundertwende, die von Mittermair Architekten und BEHF Architects in ein Wohngebäude umgewandelt wurden. Das Ensemble präsentiert sich konsequent im Stil der 60er Jahre, der Zeit der ersten umfassenden Renovierung. Dass die Einzelgebäude aber nicht nur stilistisch zusammengewachsen sind, zeigt sich am deutlichsten beim Blick nach oben: Ursprünglich mit unterschiedlichen Dachformen und -höhen versehen, wurden die Teilstücke von den Architekt*innen so aufgestockt, dass sich eine weitgehend einheitliche Firsthöhe ergibt. In eine golden schimmernde Hülle aus Metall gekleidet, ist so nicht nur zusätzlicher Wohnraum, sondern auch ein extravagantes Zeichen der Einheit entstanden.
// EXPONIERT IM INNENHOF
Vom Straßenraum aus dagegen nicht zu sehen ist die Aufstockung, die das Büro JAVA in einem Pariser Innenhof realisiert hat. Hier wurde für kleines Geld ein baufälliges Häuschen gekauft und mit geringem Budget und großem Ideenreichtum in die Vertikale gebracht. Auf Basis des sanierten zweigeschossigen Bestands und gerade einmal sechs mal vier Metern Fläche entwickelte JAVA eine leichte Konstruktion aus Holz, Glas und Polycarbonat, die auf viereinhalb Etagen plus Keller und Dachterrasse ungewöhnlichen Lebensraum schafft. Als Stapelung unterschiedlicher Nutzungen beschreibt das Büro die Konstruktion, die fast jedem einzelnen Raum auch eine eigene Etage zuweist. So bietet das Haus einer vierköpfigen Familie bezahlbares Eigentum in einer der teuersten Städte der Welt.
Auf materieller und struktureller Ebene ist die Aufstockung durch den historischen Bestand inspiriert.
// INDUSTRIELLE GOTIK
Verglichen mit den beiden vorangegangenen Beispielen scheint die Aufstockung des einstigen OLV Collegiums im belgischen Zottegem von Studio Farris geradezu minimalinvasiv. Das mag zum einen an den sonstigen Neubauerweiterungen liegen, die sich – weiß und kubisch – deutlich vom Backsteinbestand aus dem 19. Jahrhundert abheben. Zum anderen daran, dass das steile traufständige Satteldach in Flandern ein äußerst vertrauter Anblick ist. Erst die übergroßen, stählern-industriell wirkenden Gauben machen deutlich, dass unter dem First auf zwei Geschossen gewohnt werden kann. Lang und schmal greifen sie die Form der Gotik-inspirierten Fenster im Bestand auf. Die Schiefereindeckung der Aufstockung verweist auf die historische Steinfassade des Bestandsbaus und verknüpft auch auf materieller Ebene Alt und Neu.
Bildnachweise: PREFA I Croce & Wir (1); Caroline Dethier (2); Martino Pietropoli (3)

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