// DAS STEILDACH IST WIEDER EN VOGUE

// STEIMLE ARCHITEKTEN, STUTTGART
Thomas Steimle liebt die Vielfalt der Architektur, und diese Liebe sieht man seinen Bauten auch an. Die nötige Inspiration dafür holt er sich am Ort des Geschehens. Er und seine knapp 30 Mitarbeiter setzen sich auf der Suche nach dem tieferen Sinn intensiv mit den örtlichen Gegebenheiten, aber auch mit der Historie auseinander, um die Geschichten der Orte weiterzuerzählen.

Sparfüchse, Häuslebauer, Autostadt: Stuttgart hat durchaus mit zahlreichen Vorurteilen zu kämpfen. Dass die sechstgrößte Stadt Deutschlands aber auch als Architekturlabor der Moderne und Quell avantgardistischer Baukunst wie der Weißenhofsiedlung oder des Firmenmuseums von Porsche gilt, ist wohl eher nur in Fachkreisen bekannt. Architekten wie Frei Otto, Werner Sobek oder auch UN Studio haben ihre Spuren hinterlassen und das architektonische Erbe geprägt.

Wohnen wie in einem Findling: Für eine Familie realisierte das Architekturbüro eine Steildach-Interpretation mit kupierten Ecken.
„Normalerweise polarisieren wir mit unserer Architektur. Die Bibliothek in Kressbronn polarisiert hingegen nicht. Ich kenne niemanden, der sich an ihr reibt. Es scheint, als sei sie durch die spürbar erhaltene Heimatliebe zu Everybody’s Darling geworden.“
Thomas Steimle über das ehemalige Stadel in Kressbronn
Selten wird so wenig Kritik an einem Gebäude geübt wie an der Bibliothek in Kressbronn.
// DÄCHER NEU BELEBT
Ob durch Zufall oder Fügung gliedert sich nun auch Thomas Steimle mit seinen verantwortungsvollen Projekten in die Reihe namhafter Baukünstler ein. Seit 1994 lebt und baut der in Holland geborene Architekt im Großraum Stuttgart, aber auch deutschlandweit. Für ihn sei es ein weiter Weg gewesen, ehe er sich mit experimentelleren Formen und auch der Steildach-Landschaft auseinandersetzen konnte, sagt Steimle. Er selbst sei geprägt durch die Hochschullehre der 90er Jahre, in der ein Satteldach an sich ein „No-go“ gewesen sei und alles darangesetzt wurde, die in Bebauungsplänen festgesetzte geneigte Dachform durch kreative Interpretationen zu verhindern. Heute sei er froh, sich von dieser Maxime gelöst zu haben und Teile dieser geneigten Bautradition in eine moderne Architektursprache zu übersetzen.
// AUSBLICK DANK KUPIERTER ECKEN
Wie ein Findling liegt das gleichnamige Wohnhaus einer jungen Familie im dörflich geprägten Umland Stuttgarts. Der schwäbische B-Plan aus den 60er Jahren, wie Steimle ihn nennt, sah ein Haus mit klassischem Satteldach und 35 Grad Neigung vor, das sich unauffällig in die Straßenbebauung einfügt. Die Architekten entschieden sich für eine andere Herangehensweise und entwickelten das Haus von innen, also aus dem Wohnen heraus. Das wichtigste Element des Entwurfs ist der Blick nach außen, der nicht in Nachbars Garten oder auf geschlossene Wände fallen sollte, sondern in den Freiraum. Die Ecken wurden schließlich kupiert und die Kubatur des Hauses geschliffen. Die Innenräume werden über die Diagonalen hinaus in die Freiräume projiziert. Das Ergebnis ist ein unkonventionelles und gleichzeitig baurechtlich korrektes Gebäude, dessen Raumqualität im Inneren spannungsvoll ist. Der stark inszenierte Innenraum misst an der höchsten Stelle fast 6 Meter bei 2 Metern Breite und mündet in behagliche Aufenthaltsbereiche mit Höhen zwischen 2,70 und 3 Metern. Die steigenden und fallenden Traufkanten im Obergeschoss sorgen für eine expressive Dynamik.
// ALLES, ABER NICHT SCHÖN
Die Leitidee für die neue Bibliothek im historischen Stadel der Gemeinde Kressbronn am Bodensee war schnell definiert: Der Bau sollte genauso aussehen, wie er es früher einmal tat, ohne ihn zu rekonstruieren. Dazu wurde das Gebäude sorgsam rückgebaut und kartiert, der massive Dämmbetonsockel auf dem Grundriss des Vorbilds neu gegossen und das Tennengeschoss sowie das Dach wieder eins zu eins darüber errichtet. Der massive Sockel wurde nach oben extrudiert, die Lamellen der Fassade für einen optimalen Lichteinfall variiert und das Dach mit seinem weit auskragenden Überstand als Schutzsymbol und raumbildendes Element erhalten. Der Baukörper ist eine Hommage an frühere Zeiten und lebt durch die Materialität. Raues Holz und wild gesetzte Steine wurden durch grob geschalte Außenwände – im Inneren eine Nuance feiner – ins Hier und Jetzt transformiert.

Das heutige Gebäude ist schön, aber aus einem anderen Schönheitsverständnis heraus. Die Regeln hierfür machten nicht die Architekten, sondern die jahrhundertealte Geschichte, die das Gebäude zum Publikumsliebling werden ließ.
Bildnachweise: Markus Guhl (1); Brigida González

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