Die Baukultur in Deutschland ist von regionalen Eigenheiten geprägt – in Ballungsräumen ebenso wie in ländlichen Regionen. Angesichts zunehmender Verdichtung stellt sich vielerorts die Frage: Rekonstruktion oder Neuinterpretation? Die Auseinandersetzung mit baukultureller Identität ist vielschichtig und oft kontrovers. Was macht den Charakter eines Ortes aus? Während detailgetreue Nachbildungen nicht mehr vorhandener Architektur mitunter einen inszenierten, musealen Charakter annehmen, erzeugt schematische Einheitsarchitektur gesichtslose Beliebigkeit. Die Herausforderung: Neue Architektur soll sich harmonisch in die regional gewachsene Bausubstanz einfügen und zugleich zeitgemäß eigenständig bleiben. Das Dach spielt dabei eine wesentliche Rolle – als gestalterisches und kulturelles Bindeglied.
Für den exemplarischen Umgang mit dem historischen Erbe einer Altstadt lohnt sich ein Blick in das Lübecker Gründungsviertel, denn das älteste Kaufmannsviertel der Hansestadt wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört. Nach dem Abbruch der dort errichteten Schulgebäude aus den 50er Jahren war die Neubebauung im UNESCO-Welterbe ein sensibles Thema. Die Debatte um Rekonstruktion oder zeitgemäßen Wiederaufbau bewegte Fachleute wie Öffentlichkeit. Seit 2017 entstehen auf den ursprünglichen Parzellen neue Stadthäuser, die in Maßstab und Giebelstellung an das historische Häuserensemble anknüpfen. Ein gelungenes Beispiel ist das Wohnhaus in der Fischstraße 18, realisiert vom Büro Noto: Mit doppelgeschossiger Erdgeschossdiele, spitz zulaufenden Dachräumen und einem steil geneigten Satteldach folgt es historischen Baufluchten und übersetzt klassische Raumstrukturen in flexible, moderne Wohnformen. Im Inneren erstrecken sich fünf Wohnungen unterschiedlicher Größen über die Gebäudetiefe von 14 Metern, während der markante Staffelgiebel zur städtebaulichen Kontinuität und einem harmonischen äußeren Erscheinungsbild beiträgt.
Wie sich im ländlichen Raum historische Bauformen zeitgemäß transformieren lassen, zeigt das Wohnhaus in Arnsberg im Altmühltal. nbundm* architekten setzten auf eine feinsinnige Interpretation des traditionellen Austragshauses – jenes in der ländlichen Baukultur veranker- ten Rückzugsortes für Altbauern nach der Hofübergabe. Eingebettet in das historische Hofensemble schließt der Neubau den Hof zur Dorfstraße ab. Der kompakte Baukörper in Holzbauweise greift baukulturelle Merkmale wie das ortstypische Satteldach auf und entwickelt es zu einer asymmetrischen Variante weiter. Die Dachflächen bilden am First einen rechten Winkel und schaffen auf diese Weise großzügige Räume über zwei Ebenen. Zur Sockelzone aus Backstein fügt sich die Lärchenschalung, die Bezug zu den umliegenden Scheunen nimmt. So entsteht eine eigenständige, transformierte Architektur, die sich dennoch selbstverständlich in die Hofstruktur integriert. Das Steildach schlägt hierbei die Brücke zwischen historischem Bestand und neu entstandener Bausubstanz.
Welche baukulturelle Relevanz regionaltypische Materialität hat, verdeutlicht der Kindergarten in der altmärkischen Gemeinde Hohenberg-Krusemark von Hallmann Architekten. Am Übergang zwischen Ortsrand und landwirtschaftlich geprägter Landschaft behauptet sich der langgestreckte Holzbau mit apsidialen Enden und langgezogenem Kegeldach. Er entstand in Anlehnung an archetypische Bauformen, wie sie seit der Steinzeit in der Region bezeugt sind. Und auch das Material ist eine Reminiszenz an die lokale Vergangenheit: Das mit Reet gedeckte Dach folgt einer in der Region heute kaum noch angewandten Bautradition und stellte dabei hohe Anforderungen an Planung, Bauordnung und Brandschutz. Die gebauten Beispiele unterstreichen die Bedeutung, die dem geneigten Dach im Regionalen zuteilwird: Weitaus mehr als ein konstruktives Element, schafft es charaktervolle Räume, ist kultureller Träger sowie baulicher Vermittler zwischen Alt und Neu – mit identitätsstiftender Dimension.
Mehr Filme und Diskurs finden Sie auf unserem Youtube Kanal.