// Goethe mochte es steil

Prof. Jan R. Krause

// Von Prof. Jan R. Krause
Hochschule Bochum, Architektur Media Management AMM
Vom Gartenhaus zum Kultobjekt

Im Bauhaus-Jubiläumsjahr 2019 schaut alles nach Weimar, wo vor einhundert Jahren von Walter Gropius die legendäre Bildungsstätte für Architektur, Kunst und Design gegründet wurde. Was als staatliche Kunstschule begann, ist unter Architekten zur wohl einflussreichsten Bewegung im 20. Jahrhundert geworden. Rund 150 Jahre zuvor war Weimar schon einmal Schauplatz für eine Bewegung. Ein unspektakuläres Walmdachhaus wurde in wenigen Jahren zum Kultobjekt: Goethes Gartenhaus.

Es war ein Geschenk des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar und Eisenach an den 26 Jahre jungen Johann Wolfgang von Goethe: Das ehemalige Weinberghaus im Park an der Ilm. 1776 bezog der Dichter Haus und Garten. Er selbst nannte es „Goethes Gartenhaus“, wie einer Widmung unter einem zeitgenössischen Stich zu entnehmen ist. Doch es war keineswegs nur ein Wochenend-Refugium, sondern sein fester Wohnsitz während der ersten sechs Jahre in Weimar. In dem Häuschen entstanden wichtige Werke der Weltliteratur, Zeichnungen und naturwissenschaftliche Studien. Auch nach seinem Umzug an den Frauenplan blieb es zeitlebens Rückzugs- und Arbeitsort für den Dichter.

Nach Goethes Tod schon früh öffentlich zugänglich gemacht, wurde das Gartenhaus mit seinem charakteristischen steilen Walmdach einer der ersten Wallfahrtsorte der Klassik und des Goethekultes. Bereits zu Lebzeiten Goethes wurde es oft gezeichnet und gestochen, in späterer Zeit tausendfach fotografiert. Im Kulturstadtjahr 1999 wurde unmittelbar neben dem Gartenhaus sogar eine zum Verwechseln ähnliche Kopie errichtet. Seit 1886 ist es Museum, seit 1998 gehört es als Teil des Ensembles „Klassisches Weimar“ zum UNESCO-Weltkulturerbe.

„Uebermüthig sieht´s nicht aus / Dach und niedres Haus“, dichtete Goethe selbst über sein schlichtes Gartenhaus. Und doch löst es bis heute eine große Faszination aus – nicht nur wegen seines prominenten Besitzers. Was macht das Haus so besonders? Wie konnte es zur Stilikone werden?

Der Typus eines freistehenden, zweigeschossigen Walmdachhauses mit Holzschindeldeckung war durchaus charakteristisch für seine Zeit. In Historismus und Gründerzeit ging die Tradition dieser Bauform verloren. Erst mit der traditionalistischen Moderne erlangte sie eine Renaissance. Durch Paul Mebes Schrift „Um 1800“ erfuhr Goethes Gartenhaus eine besondere Stellung im Architekturdiskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts – etwa zehn Jahre vor Gründung des Bauhauses.

Es sind wohl die formale Klarheit und die Harmonie der Proportionen, die dieses Haus für die Architekten der Moderne so populär machen. In der Gesamtwirkung ergibt sich eine Ausgewogenheit zwischen Breite und Höhe, Rechteck der Wand und Trapez des steilen Walmdachs. Die Firstlänge entspricht der Länge der Dachschräge. Das Grundmotiv der Fassadengestaltung besteht aus drei gleichmäßig auf die Wandfläche verteilten Fenstern pro Stockwerk, die axial übereinander angeordnet sind. Diese Einfachheit, Geradlinigkeit und symmetrische Ordnung beeinflusste maßgeblich den Wohnhausbau der Reformarchitekten.

Bemerkenswert ist, dass auch die Avantgarde bis heute ihre Freude an diesem scheinbar so traditionalistischen Haus gefunden hat. Der nur regenrinnenbreite Dachüberstand und die optisch am Dachgesims hängenden Fenster verleihen dem 400 Jahre alten Haus seine außergewöhnliche Modernität. Hinzu kommen die kleinen Regelverstöße, die die allzu starre Grundordnung brechen. So ist die zentrale Dachgaube leicht aus der Mittelachse nach links verschoben, die Eingangstür wiederum leicht nach rechts versetzt. Noch deutlicher wird die gleichmäßige Harmonie durch das zugemauerte Fenster im Obergeschoss gebrochen, das jedoch durch die Erhaltung des Fenstergewandes sichtbar geblieben ist. Und ein asymmetrisches Rankgerüst überlagert das symmetrische Bild der Fassade.

In der formalen Gestaltung des Hauses, den Proportionen des Baukörpers und des Daches lässt sich die Sehnsucht nach Eigenständigkeit, Individualität und Unabhängigkeit ablesen. In seiner klaren Geometrie, seiner skulpturalen Kraft und seiner Besonderheit im Detail wirkt Goethes Gartenhaus bis heute ortsunabhängig und zeitlos. Für Architektengenerationen wurde es zum Prototyp eines Walmdachhauses. Der große Architekt und Hochschullehrer Heinrich von Tessenow bezeichnete es gar als „Urausdruck des Hauses“ schlechthin.

Tipp: Im Bauhausjubiläumsjahr nicht nur das neue Bauhausmuseum in Weimar besuchen, sondern auch Goethes Gartenhaus im Park an der Ilm:
https://www.klassikstiftung.de/einrichtungen/museen/goethes-gartenhaus

Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Goethes_Gartenhaus_-_panoramio.jpg#/media/File:Goethes_Gartenhaus_-_panoramio.jpg

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